nein, dies ist Wrangel-Kiez!

Dieser Beitrag hat 14 Kommentare

  1. Sigurd

    Mal ganz abgesehen davon, daß der Titel doppelt paßt, weil David Bowie ja bekanntlich auch mal in der Stadt gelebt hat: Das ist Berlin! So wird man’s zwar nie auf Hochglanzpostkarten zu sehen bekommen und die Reiseführer werden es auch weiterhin totschweigen, weil nicht hip und trendy genug, aber d a s ist es, das ist Berlin…

  2. Wolfgang B.

    Zuerst mal: Dieses Foto ist eines der besten über Berlins Kiez! Leider gibt es keinen „Oscar“ für Fotografie. Aber von mir bekommt Grapf einen!

    Der Witz im Bild ist, daß die ganze Szene aus Amerika stammen könnte. Da gibt es kaum Unterschiede. Wenn man sich die wenigen deutschen Wörter in diesem Foto wegdenkt, sieht es aus wie ein Bild aus New York. Die Aussage: „This is not America“ erscheint mir als ein fader und müder Protest gegen einen politischen Prozeß, der wahrscheinlich kaum noch umzukehren ist, leider!

    Viel wichtiger ist für mich die Aussage rechts daneben: „Here is not everywhere“. Und das bringt es auf den Punkt. Das ist Berlin: HERE IS NOT EVERYWHERE!

    Und schaut Euch mal die Frau an in ihrer Körperhaltung in Relation zum Volkswagen rechts im Bild. Das tut ja richtig weh. Wer hat, der hat; der Rest stirbt von Hartz4.

    Dieses Foto spricht für mich. Danke, Grapf!

  3. Max

    @Sigurd:
    Ich würde widersprechen. Es gibt mitlerweile genug „Hochglanz-„Postkarten, die das verkommene Berlin darstellen, schließlich liegt darin für viele auch der Reiz dieser Stadt. Im Übrigen romantisieren viele die hiesigen Verhältnisse ja auch oft…

  4. Sigurd

    Also, Max, zunächst einmal Danke für die Info. Das mit den Postkarten ist mir neu, ich wohne jetzt bald drei Jahre in Westdeutschland und war seitdem nicht mehr in Berlin. Ich sehe aber hier jeden Tag deutlich wie eine typisch deutsche Stadt eigentlich aussieht. Nämlich sauber und ordentlich, es gibt keine zerkratzten Scheiben in den Bahnen, man kann rausgucken. Hast du was am Schuh ist es Laub, kein Hundekot. Vor allem ist der Gesamteindruck nicht so ärmlich, eher das genaue Gegenteil. Soll heißen: Deutschlands Hauptstadt ist eigentlich überhaupt keine deutsche Stadt.

    Insofern hat Grapf da auch mehr abgebildet als nur den Wrangelkiez sondern eine – jedenfalls für mich – klassische Berliner Straßenszene eingefangen. Was ich im Sinn, als ich sagte das wäre Berlin, war weniger falsch verstandene Romantik – obwohl ich schon oft die Schönheit auch im Häßlichen sehen kann, etwa am Bahnhof Ostkreuz. Nein, ich dachte spontan an die Touristen, die durchs Regierungsviertel und an den Potsdamer Platz (Hochglanz-Orte für Hochglanz-Postkarten) gekarrt werden, und die dann hinterher zu Hause in Böblingen erzählen, sie wären in Berlin gewesen. Und dabei haben sie von dem, was Berlin wirklich ausmacht, von einer Stadt in der jeder fünfte arbeitslos ist, in Wahrheit überhaupt nichts gesehen.

    Ich erinnere mich an eine Radiosendung zum Thema Kinderarmut in Deutschland vor ein paar Wochen. In der erzählte ein Pfarrer aus Hohenschönhausen wie er eine Sightseeing-Tour für Kinder aus dem Bezirk organisiert hatte. Am Brandenburger Tor hätten ihn die Kinder gefragt, wann sie denn wieder nach zurück nach Berlin führen. – Noch Fragen?

  5. grapf

    Na die Hochglanzpostkarten zeigen dann aber doch nur sehr ausgewählte Motive wie das Tacheles oder so gewisse Hinterhöfe, wo bei aller Verwahrlosung noch genug Platz für Romantik bleibt.

    Aber was das Schmuddlige anbelangt, so wird das sicher die längste Zeit etwas gewesen sein, das nur Berlin auszeichnet. Denn in dem Maße, in dem auch den westdeutschen Kommunen das Geld ausgeht und Hartz4 über den Kopf wächst und Industriebrachen genauso zunehmen wie leerstehende Wohnbauten, in diesem Maße nimmt auch der Verschmuddelungsfaktor zu.

    Hier eigentlich wichtig ist mir, daß es im Wrangelkiez nach wie vor ganz normal zugeht. So gewisse Zeitungsberichte erweckten in jüngster Vergangenheit den Eindruck, dort würde die Anarchie ausbrechen. Davon ist zumindest an den Oberflächen nichts zu sehen.

  6. Sigurd

    Man kann die Dinge ruhig beim Namen nennen: Im „Tagesspiegel“ klang das so, als würde in Berlin jetzt das ausbrechen, was man unter dem Begriff „Rassenunruhen“ aus den USA kennt. Womit wir wieder beim Bildtitel wären.

  7. Max

    Richtig, die meisten Motive auf den hässlichen Postkarten laden zur Romatik ein. Spontan fällt mir da das Haus am Hackeschen Markt ein, in dem das Kino Central sitzt. Wahrscheinlich ist es da aber einfach der krasse Kontrast zur Umgebung, der die Leute anzieht.
    Ich weiß nicht, ob man die Zustände besonders in der südlichen Innenstadt Berlins so „normal“ nennen kann. Es ist nun mal Tatsache, dass Neukölln das niedrigste Durchschnittseinkommen Berlins hat, ergo arm ist. Wenn Bekannte dort nachts bis auf die Unterhose ausgeraubt werden stimmt einfach irgendetwas nicht. Diverse soziale Projekte wecken zwar immer wieder positive Gedanken, sind aber allemal als Beweis für die Notwendigkeit des Eingriffs zulässig.
    Was soll ich sagen…diese Stadt lässt mich verzweifeln, aber ich liebe sie trotzdem…

  8. Sigurd

    Dem letzten Gedanken stimme ich voll und ganz zu: Berlin ist eine Stadt, die man trotzdem liebt.

    Bei allem Respekt vor den vielen gut gemeinten Projekten wie dem Quartiersmanagement – das wird nie fruchten, weil es nur ein herumdoktern an den Symptomen ist. Wurzel des Übels ist aber der Mangel an Arbeitsplätzen. Unsere Gesellschaft gibt zu vielen Menschen das Gefühl überflüssig zu sein und nicht gebraucht zu werden. Wer heute von der Hauptschule kommt, kann sich doch eigentlich gleich einbalsamieren lassen. Ihm wird die Form von Bestätigung versagt, die jeder Mensch braucht, um gesund und normal leben zu können.

    Arbeit schafft die Integration in soziale Strukturen, die wir ja alle so gern fordern. Wer von seiner Hände Arbeit leben kann – leben, nicht mit einem 400-Euro-Minijob dahinvegetieren – muß niemanden berauben, um sich die materiellen Wünsche erfüllen zu können, die wir alle in unserer Konsumgesellschaft haben. Wer das Arbeitsmarktproblem löst, wird sehen wie die Probleme, die sich in seiner Folge gebildet haben, auf normales Maß zusammenschrumpfen.

  9. Wolfgang B.

    Wolfie hier in Santa Monica (USA) liest alle die Kommentare, findet sie intelligent und wichtig und wundert sich trotzdem darüber, daß niemand bisher einen globalen Kontext herausstellen konnte. Berlin als Stadt und mit den Kiezen existiert nicht im luftleeren Raum. Berlin ist eine wirkliche Weltstadt geworden, was diese Stadt zwischen 1945 und der Wiedervereinigung eigentlich nie war! Berlin war ein spezielles Biotop. Die beste Beschreibung über jene Zeitspanne, an die ich mich erinnern kann, kommt aus der Feder von Wolf Biermann, der Berlin als den Arsch des gespaltenen Deutschlands beschrieben hat, welcher dann auch noch gespalten ist. Das hat Berlin ausgemacht! Und seine Geschichte. Kurt Tucholsky zum Beispiel trug eine Menge dazu bei.

    Wir geborenen Berliner wurden ja geradezu gebadet im Rosenwasser der Besonderheit. Willy Brandt hat das gut draufgehabt, Kennedy natürlich, und die tägliche Abendschau. Berlin war im „kalten Krieg“ wichtig, ist es aber nun nicht mehr. Die Mauer ist weg, und Berlin ist nun eine ganz gewöhnliche Großstadt, die mit den ganz gewöhnlichen Weltproblemen zu leben lernen muß.

    Berlin ist eine gleichberechtigte Schwester geworden von Los Angeles, New York, Tokio, London, Paris, Djakarta, Stockholm, usw.

    Berlin sieht aus meiner amerikanischen Sicht kaum anders aus als zum Beispiel Los Angeles. Da gibt es Armut und verfallene Stadtviertel inmitten von feinsten Wolkenkratzern. Zehntausende von wohnungslosen Menschen leben in Kartons, in denen einst supergroße TVs drin waren. Die Bullen scheuchen sie ohne Grund hin und her, und diesen Arschlöchern sitzt der Revolver locker! Graffity ist überall. Gangs regieren über bestimmte Stadtviertel und neugeborene Kinder werden in Mülltonnen geworfen, und das fast täglich.

    Warum ich diesen Vergleich ziehe? Der Grund für die Arbeitslosigkeit in Deutschland, die Hoffnungslosigkeit und Armut in den Ballungsgebieten der Welt, zu denen Berlin nach dem Mauerfall endlich als „Freiwild“ zählt, ist nicht mehr lokal zu suchen. Es ist ein weltweiter monetärer Prozeß. Und die USA mit ihrem „Affen“ haben alles zu Grunde gerichtet.

    Aber die Wut richtet sich immer noch nicht gegen diejenigen, die dies alles verursachen oder unterstützen: Halliburton, Exxon, BP, Texaco, Boeing, TimeWarner, Symantec, General Motors, Daimler-Chrysler; es sind zu viele.

    Grapf zeigt in seinen Bildern alles: Die Vergangenheit, die Gegenwart und manchmal auch die Zukunft (Die Kräne). Grapf hat eine einfache Methode. Er nimmt Bilder auf, die der Wahrheit entsprechen, ohne Schulmeisterei, ohne Schönfärberei, einfach aus dem Leben der gefundenen Umgebung.

    Was dabei herauskommt, ist dieser lange Kommentar. Da sieht man mal, wie Bilder sprechen können.

  10. Sigurd

    @ Wolfgang: zu „die Wut … gegen diejenigen, die dies alles verursachen oder unterstützen“:

    Tja, da kann sich jeder an die eigene Nase fassen: Wir sind alle Kunden dieser Unternehmen. Und diejenigen, die das unterstützen, das sind wir. Die tun das doch nur, um an unser Geld zu kommen, und wir geben es ihnen auch noch. Wir fordern deutsche Löhne, Mutterschutz, Rentenvorsorge usw., aber was wir kaufen sind chinesische Billigprodukte, die freilich oft so billig dann doch nicht sind, weil sich besagte Firmen daran bereichern.

    Wir haben Schwierigkeiten Lösungen zu finden, weil wir alle Teil vom Problem sind.

  11. Max

    @ Wolfgang B. : Ich kann dir nicht widersprechen, aber abgeben muss man sich mit solchen Zuständen nicht.
    Niemand hindert einen aus Neukölln daran ordentlich Deutsch zu sprechen und sich zu benehmen, ein erster Schritt in Richtung Ausbildungs-/Arbeitsplatz. Und wer lernen möchte, kann findet auch eine Schule an der das möglich ist, ich bin jeden morgen 30Minuten S-Bahn gefahren. Man braucht hier ja nur kleine oder mittlere Unternehmer zu fragen, die können vor Dummheit strotzende Kinder ja nicht an sich binden, das wäre der eigene Ruin. Es ist nicht nur die Arbeit oder das Einkommen, welches die Menschen am weiterkommen hindert. Ich habe vor einiger Zeit einen Interessanten Satz gelesen: „Hätten die Trümemrfrauen nach dem Krieg die Mentalität der Frauen von heute gehabt, wäre Deutschland nie wieder aufgestanden.“
    Man mag darüber streiten, ich glaube da ist Wahres dran.
    Somit trotzdem eine frohe Weihnacht.
    Max

  12. Sigurd

    Sorry, Max, aber das kann ich so nicht stehen lassen: Daß Neukölln (aber auch andere Bezirke) Probleme mit Schulabgängern hat, die schlecht deutsch sprechen und u.a. deshalb nicht ausbildungsbereit sind, dürfte inzwischen allen, die es denn wissen wollen, bekannt sein. Man kann die Schuld an der Situation aber nicht allein den Betroffenen zuschieben. Es ist auch Aufgabe der übrigen Gesellschaft diese Zustände aufzubrechen, nicht zuletzt im eigenen Interesse eines friedlichen Zusammenlebens. Lösungsansätze werden seit Jahren genug diskutiert: kleinere Klassen durch mehr Lehrer, muttersprachlicher Unterricht, Ausbildung islamischer Religionslehrer an deutschen Universitäten usw. Alle diese Maßnahmen läßt man unter dem Vorwand versanden, es fehle an Geld, und das, obwohl uns der Bundesrechnungshof jährlich vorrechnet wieviel Steuermilliarden unser Staat verschwendet.

    Ein Hauptproblem Neuköllns ist sicher auch, daß unser Land seit den 1960er Jahren de facto ein Einwanderungsland ist, diese Tatsache aber noch nicht in allen Köpfen angekommen ist. Zu viele tun immer noch so, als würden die „Gastarbeiter“ irgendwann wieder nach Hause gehen. Dabei haben die hier schon längst Kinder in 3. und 4. Generation. Diese Realitätsverweigerung der deutschen Mehrheitsbevölkerung ist Mitverursacher unserer Probleme. Wenn du dich mit Türken unterhältst, wirst du feststellen, daß sie sich oft von der deutschen Gesellschaft nicht akzeptiert und gewollt fühlen. Das sich da dann einige aufgeben, weil sie nicht mehr sehen können, wie Anstrengung zum erhofften Erfolg führt, ist irgendwo verständlich, oder?!

    Trotz allem auch Dir schöne Feiertage!

  13. Max

    @Sigurd: Ich kenne einige Türken, die man als solche gar nicht mehr erkennt. Ein anderer (aus Neukölln!) studiert mit mir gemeinsam. Natürlich hört man da einen Akzent, aber dort ist einer, der sich Mühe gibt. Wenn man nämlich die Kinder, die von Perspektivlosigkeit reden fragt, woran es denn mangelt, dann wissen sie meist selbst keine Antwort. Bildung ist in Berlin bis zum Diplom immernoch kostenlos, da kann mir keiner mit einem Defizit kommen, große Klassen hin oder her. Würden die Schüler konzentriert und mit Respekt voreinander arbeiten, wäre das alles kein Problem. Aber wahrscheinlich ist der Zug längst abgefahren…
    Noch zur Integration: Ich bin befreundet mit einer armenischen Familie, die es problemlos geschafft hat sich in Brandenburg(!) niederzulassen. Die Jüngste schreibt mittlerweile die besten Aufsätze ihrer Klasse und die Jungs studieren Maschinenbau und Architektur. Und all das ohne irgendwelche staatliche oder gemeinnützige Hilfe; nicht Neuköll, aber Brandenburg wird ja für Fremde nicht grad als leichtes Pflaster beschrieben.

  14. Sigurd

    Max, ich stimme Dir zu, wenn Du sagst, der Zug ist abgefahren. Die Frage, ob wir Einwanderungsland sein wollen oder nicht, und wie wir das finden, stellt sich nicht mehr. Wir sind es. Die Frage ist nur noch, was wir daraus machen: Kommen wir zu einem friedlichen Miteinander oder mit wieviel Reibung müssen wir lernen zu leben. Ich stimme Dir auch voll und ganz zu, wenn Du meinst, daß man Erfolg auch wollen muß, damit er sich einstellt. Die großartigste junge Frau, die mir in meinem bisherigen Leben begegnet ist, ist eine Berliner Türkin. Und ich rede hier nicht von Äußerlichkeiten, ich meine, was die an Power und an Selbstbewußtsein hatte, läßt nicht nur die meisten deutschen Frauen blass aussehen sondern auch viele Männer. Sie hat heute folglich auch einen guten Job in einem Büro am Ku’damm. Daß es neben diesen Positivbeispielen auch andere gibt, liegt mit daran, daß der Wille allein heute leider nicht mehr genügt. Wer in so ein Problemviertel (Neukölln, Wedding, whatever) hineingeboren wird, erlebt Arbeitslosigkeit und Leben von staatlichen Transferzahlungen nicht mehr als Ausnahme sondern als Normalität. Zum Arbeitenwollen gehört eben auch, daß ein Arbeitsmarkt da ist, um Arbeitskräfte aufzunehmen (war übrigens auch der Denkfehler von HartzIV). Und an dem Punkt, komme ich nicht mehr an Karl Marx und Bertolt Brecht vorbei, wenn sie sagten, das Sein bestimmt das Bewußtsein. Wer sich nur als Verlierer erfährt, braucht viel Kraft und Phantasie, um noch an anderes glauben können und dafür zu arbeiten. Die haben nicht alle. Menschen sind individuell unterschiedlich. Es passiert, daß sich Resignation einstellt, und Frustration, die dann mitunter in Aggression umschlagen kann. Womit ich gar nichts entschuldigen will, nein, mich kotzen bestimmte Mißstände in der Stadt genauso an, wie ich den Eindruck habe, daß sie Dich ankotzen. Ich bin zwar nicht unbedingt freiwillig aus Berlin weggezogen, aber ich würde auch nicht unbedingt freiwillig dorthin zurückziehen. Doch Problemlösung beginnt mit verstehen. Und man sollte nicht die oberflächliche Erscheinung des Problems mit dem Problem selbst gleichsetzen, das greift zu kurz. – So, ich glaube, jetzt habe ich alles zum Thema gesagt. Danke an Grapf für sein Verständnis dafür, daß sein Photoblog etwas zweckentfremdet wurde, aber man kann nun mal Bilder aus einer so hochpolitischen Stadt wie Berlin nicht immer in einem Satz abhandeln.
    Beste Grüsse an alle aus Düsseldorf am Rhein

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